BGH, Urteil vom 26.05.2020, Az.: VI ZR 213/19
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bestätigte die Haftung eines Radiologen, der ein Mammographie-Screening zur Abklärung einer seit einem Jahr eingezogenen Brustwarze (sog. Mamillenretraktion) als unauffällig befundet hatte ohne weitere Untersuchungen zur Abklärung anzuregen.
Bei der Auswertung eines Mammographie-Screenings zur Krebsvorsorge sind nicht nur das Bildmaterial, sondern auch Begleiterscheinungen in die Bewertung mit einzubeziehen.
Der Entscheidung lag folgender Fall zugrunde:
Die Klägerin stellte sich 2012 im Rahmen einer Krebs-Vorsorgeuntersuchung bei dem beklagten Radiologen vor. Sie gab an, dass ihre Brustwarze seit ca. einem Jahr leicht eingezogen sei. Der Radiologe veranlasste eine Mammographie, dessen Ergebnis er als Normalbefund bewertete. Es seien keine Auffälligkeiten festzustellen. Der Radiologe wies nicht auf die Notwendigkeit hin, die Mamillenretraktion weiter abklären zu lassen.
Im Frühjahr 2014 stellte sich die Patientin wegen der zunehmenden Einziehung der rechten Brustwarze (Mamillenretraktion) nebst „Delligkeit“ vor. Die folgenden Untersuchungen führten zur Diagnose von Brustkrebs. Es mussten Karzinome sowie Lymphknoten entnommen werden. In zwei entnommenen Lymphknoten wurden Metastasen festgestellt. Verdächtiges Gewebe wurde nachreseziert. Es folgten Bestrahlungen und eine Chemotherapie. Die Patientin warf dem Radiologen vor, dass bei korrektem Vorgehen ihr Brustkrebs in einem früheren Stadium entdeckt und behandelt worden wäre, in dem noch keine Lymphknoten befallen gewesen wären. Eine Chemotherapie hätte es dann nicht bedurft und die Anzahl der Bestrahlungen wäre geringer gewesen. Die Gerichte gaben ihr Recht; ihr wurde Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 € sowie der Ersatz des materiellen Schadens zugesprochen.
Der für die Auswertung eines Mammographie-Screenings verantwortliche Arzt hat alle Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für gebotene Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereichs unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen muss.
Der Bundesgerichtshof bestätigte die Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart. Der Radiologe sei zu einer ordnungsgemäßen Durchführung des Mammografie-Screenings und zu einer sorgfältigen Befundung unter Einbeziehung der im Rahmen der Anamnese gewonnenen Erkenntnisse verpflichtet. Im vorliegenden Fall habe es nicht der ärztlichen Sorgfaltspflicht entsprochen, im Hinblick auf die mitgeteilte Mamillenretraktion nichts weiter zu unternehmen und der Patientin mitzuteilen, es bestünden keine Auffälligkeiten.
Auch bei einem unauffälligen Mammographie-Screening kann eine weitere Abklärung, etwa durch Tastbefund oder Sonographie, erforderlich sein. Dieses Erfordernis muss allen bekannt sein, die sich mit Mammadiagnostik in der Krebsvorsorge beschäftigen
Ein Arzt müsse bei einer Beobachtung, die er im Rahmen seiner Untersuchung macht und die auf eine ernst zu nehmende Erkrankung hinweisen kann, auf eine rasche diagnostische Abklärung hinwirken, um vermeidbare Schädigungen des Patienten auszuschließen. Er darf Auffälligkeiten, die ihm zur Kenntnis gelangen, nicht einfach übergehen. Sogar vor „Zufallsbefunden“ darf er nicht die Augen verschließen. Die Pflicht des Arztes, Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für die gebotenen Maßnahmen zu nehmen, bestehe erst recht dann, wenn – wie vorliegend – Zweck der Untersuchung die Früherkennung einer Krebserkrankung ist und es sich um eine angegebene Auffälligkeit handelt, die auf eben eine solche Krebserkrankung hindeuten kann.
Das Erfordernis weiterer Abklärung einer eingezogenen Brustwarze (Mamillenretraktion) im kurativen Bereich müsse auch bei unauffälligen Mammografieaufnahmen allen bekannt sein, die sich mit dem Bereich der Mammadiagnostik beschäftigen, d. h. sowohl Gynäkologen als auch Radiologen.
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