Urteil des AG Magdeburg vom 07.09.2015, Az.: 104 C 739/09
Das Urteil des Amtsgerichts Magdeburg vom 07.09.2015 ist erwähnenswert, da es die bahnbrechende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EUGH, Urteil vom 05.03.2015, C 503/13, C-504/13) folgerichtig anwendet.
Das Amtsgericht verurteilte die Herstellerin eines Herzschrittmachers (Medizinprodukt: Pacemaker-System) zur Erstattung aller Schäden, die durch den Austausch des Herzschrittmachers entstanden sind.
Der Herzschrittmacher war ursprünglich entwickelt worden, um Herzrhythmusstörungen auszugleichen. Diese Funktionalität konnte das Medizinprodukt jedoch nicht gewährleisten. Die Herstellerin hatte daher ein mit „dringende Medizinproduktsicherheitsinformation und Korrekturmaßnahmen“ betiteltes Rundschreiben an Ärzte versandt. In dem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass ein Bauteil des Herzschrittmachers einem langsamen Verfall unterliege. Es wurde eine Fehlerrate in den aktiven, implantierten Geräten von 0,17 % bis 0,51 % prognostiziert, wobei die tatsächliche Häufigkeit höher liegen könne. In einem weiteren Schreiben korrigierte die Herstellerin die zu erwartende Fehlerrate nach oben auf 0,33 % bis 0,88 %. Die informierten Kardiologen entschlossen sich, die Herzschrittmacher zu explantieren und durch andere zu ersetzen.
Die Herstellerin wurde zum Ersatz der ursächlichen Schäden verurteilt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Herstellerin verurteilt worden ist, ohne dass der Geschädigte bei dem ausgebauten Herzschrittmacher den Fehler konkret darlegen und beweisen musste.
Das Amtsgericht Magdeburg verwies zwar auf den eigentlichen Grundsatz, dass der Geschädigte das Vorliegen eines konkreten Fehlers im Sinne des § 3 Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) beweisen müsse. Bei dem Herzschrittmacher ergebe sich der Fehler jedoch bereits aus dem Rundschreiben der Herstellerin. Das Rundschreiben bestätige eine Ausfallrate von mindestens 0,17 % bis 0,51 %.
Bei einem Herzschrittmacher handelt es sich um ein Medizinprodukt der Risikoklasse III, bei dem die Anforderungen an dessen Sicherheit, die der Patient und der behandelnde Arzt zu erwarten berechtigt sind, besonders hoch sind.
Die besonders hohen Sicherheitserwartungen ergeben sich bereits aus der Funktion eines Herzschrittmachers und den Folgen, die eine Fehlfunktion für die körperliche Integrität bzw. Gesundheit des Trägers haben kann.
Wenn bei einem Herzschrittmacher ein Ausfallrisiko festgestellt worden ist, das oberhalb dessen liegt, was bei diesem Produkt berechtigterweise erwartet werden kann, so liegt ein Fehler im Sinne des § 3 ProdHaftG vor. Ob dieser Fehler auf eine fehlerhafte Konstruktion oder einen Fabrikationsfehler zurückzuführen ist, ist dann gleichgültig. Bei einem Herzschrittmacher reicht es aus, wenn ein sog. „potentieller Fehler“ bei einer Serie oder Gruppe tatsächlich festgestellt worden ist. Ein Fehler an jedem einzelnen Produkt selbst muss in diesem Fall dann nicht mehr nachgewiesen werden (EUGH, Urteil vom 05.03.2015, C-503/13, C-504/13).
Bei der Frage, in welchem Umfang sich ein Ausfallrisiko erhöht haben muss, um als fehlerhaft im Sinne des § 3 ProdHaftG gewertet zu werden, sind stets die Folgen eines Ausfalls zu berücksichtigen. Je tiefgreifender die Folgen eines Ausfalls sind, desto geringer müssen die Anforderungen an die Erhöhung des Risikos sein. Bei einem Zerfall der Dichtungen in einem Herzschrittmacher ist mit einem Ausfall des Herzschrittmachers zu rechnen. Dieser wiederum kann zum Tod des Trägers führen. Es liegt auf der Hand, dass angesichts dessen eher geringe Anforderungen an die Erhöhung des Risikos einen Ausfall zu setzen sind.
Bei Medizinprodukten der Risikoklasse III kann daher bereits eine Erhöhung des Ausfallrisikos um 0,1 % ausreichend sein, um einen Produktfehler zu begründen.
Der Europäische Gerichtshof hielt im Zusammenhang mit Herzschrittmacher (Defibrillatoren) bereits ein Ausfallrisiko von 0,00008696 (das sind 4 Vorfälle bei 46.000 Geräten) für ausreichend, um einen Produktfehler für jedes Gerät in der Produktserie zu begründen.
Der Bundesgerichtshof spricht im Zusammenhang mit Medizinprodukten der Risikogruppe III von einer Fehlerquote „gegen null“, die erwartet werden kann (BGH NJOZ 2014, 567).
Der vom Amtsgericht Magdeburg beauftragte Sachverständige stellte fest, dass entsprechend einer in den USA erhobenen Studie die Gesamtfehlerrate bei Herzschrittmachern in dem Zeitraum von 1990 bis 2005 0,39 % betragen habe. Die von der Herstellerin mitgeteilte Fehlerrate lag damit erheblich über den genannten Werten.
Professionelle Beratung
Gerne berate ich Sie als Betroffene/r eines fehlerhaften Medizinprodukts. Wenden Sie sich gerne an mich, sobald Sie einen Verdacht über einen Produktfehler hegen. Wichtig ist, dass Sie das Medizinprodukt nicht aus der Hand geben – im Falle einer streitigen Auseinandersetzung ist das Medizinprodukt ein wesentliches Beweismittel.
Rechtsanwältin Maike Bohn, Aachen