OLG Köln, Beschluss vom 27.11.2017, AZ: 5 U 101/17
Die 25. Zivilkammer des Oberlandesgerichts Köln befasste sich mit der Frage, in welchem Umfang die ärztliche Diagnostik mittels Röntgen- und Computertomographie-Verfahren (= CT) im Falle eines Polytraumas zu erfolgen hat. Speziell war zu entscheiden, inwieweit es den Ärzten bei einer verunfallten Fahrradfahrerin mit Frakturen in unterschiedlichen Körperregionen geboten war, sicherheitshalber ein Ganzkörper-CT zu veranlassen.
In dem zu entscheidenden Fall war die Klägerin im April 2014 vom Fahrrad auf ihre rechte Körperseite gestürzt. Sie trug einen Fahrradhelm, der bei dem Sturz beschädigt wurde. Die Klägerin wurde mit dem Rettungswagen bei der Beklagten in die unfallchirurgische Ambulanz eingeliefert und dort klinisch untersucht; es wurde dabei ihre Unfallgeschichte aufgenommen, die geklagten Beschwerden registriert sowie eine körperliche Untersuchung vorgenommen. Die Klägerin klagte über Schmerzen im Bereich der rechten Leiste, der Hüfte und des rechten Oberarms, nicht aber über Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule. Im Anschluss an die klinischen Untersuchungen, die keine Auffälligkeiten bei der Wirbelsäule zeigten, wurden Röntgenuntersuchungen des Ellenbogens und des Oberarmes rechts sowie CT-Untersuchungen des Ellgenbogengelenks und des Beckens durchgeführt. Dabei wurde eine hintere Beckenringfraktur rechts sowie ein offener Trümmerbruch am rechten Oberarm diagnostiziert. Erst Monate später stellte man bei der Klägerin einen Bruch an der Halswirbelsäule fest, nachdem aufgrund zunehmender Klagen über Nackenschmerzen eine MRT-Untersuchung an der Halswirbelsäule durchgeführt worden war.
Die Klägerin warf den Ärzten vor, diese hätten direkt bei Aufnahme in der Unfallambulanz eine Bildgebung des Kopfes und der Halswirbelsäule veranlassen müssen. Das sah das Oberlandesgericht Köln nach Einholung eines Sachverständigengutachtens anders.
Eine CT-Untersuchung des Schädels wird laut ATLS-Protokoll nur dann gefordert, wenn bei der/m Verletzten ein Bewusstseinsverlust, Gedächtnisverlust, Desorientiertheit, eine offene oder Impressionsschädelfraktur oder Hinweise auf eine Schädelfraktur vorliegen
Der gerichtliche Sachverständige hatte ausgeführt, dass eine wichtige Grundlage zur Festlegung der notwendigen Diagnostik bei einem Schwerverletzten das „Manual“ des „Advanced Trauma Life Support for Doctors“ (ATLS) darstelle. Dieses beinhalte die wesentlichen Behandlungskriterien für die Kliniken in Deutschland, die in den Traumanetzwerken der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie organisiert seien.
Eine wichtige Grundlage zur Festlegung der notwendigen Diagnostik bei einem Schwerverletzten stellt das amerikanische „Manual“ des „Advanced Trauma Life Support for Doctors“ (ATLS) dar
Laut ATLS-Protokoll werde eine CT-Untersuchung des Schädels nur dann gefordert, wenn bei der/m Verletzten ein Bewusstseinsverlust, Gedächtnisverlust, Desorientiertheit, eine offene oder Impressionsschädelfraktur oder Hinweise auf eine Schädelbasisfraktur vorliegen.
Auch die einschlägige S3-Leitlinie „Polytrauma“ (Stand 07/2011) empfiehlt die Durchführung einer Schädel-CT u.a. nur bei Koma, Bewusstseinseintrübung, Amnesie, bei Erbrechen, bei Vorliegen eines Krampfanfalls, bei Anzeichen einer Schädelfraktur, bei Vorliegen einer Gerinnungsstörung, bei unklarem Unfallablauf, bei starken Kopfschmerzen, bei Alkohol- und Drogenintoxikation sowie bei Hinweisen auf ein sog. „Hochenergietrauma“ (= Unfall mit hohen Aufprallgeschwindigkeiten)
Keine dieser Voraussetzungen seien im Fall der Klägerin bei Erst-Aufnahme gegeben gewesen. Weder aus der Behandlungsdokumentation, noch aus der Dokumentation zur anschließenden Rehabilitationsbehandlung stellten sich Hinweise auf ein schwerwiegendes Problem der Halswirbelsäule dar. Die Klage auf Schadensersatz wurde daher abgewiesen.
Ähnlich gelagerte Fälle mit Unfällen im Zeitraum ab Juli 2016 könnten zukünftig anders entschieden werden. Denn die S3-Leitlinie, die für die Bestimmung des medizinischen Standards Relevanz hat, ist zu Juli 2016 überarbeitet worden. In der aktuellen S3-Leitlinie „Polytrauma“ mit Stand 07/2016 wird nun bei der Diagnostik von Schwerverletzten eine zeitnahe Ganzkörper-Computertomographie mit traumaspezifischem Protokoll empfohlen.
Achtung (!) bei Unfällen ab Juli 2016: Die aktuelle S3-Leitlinie „Polytrauma“, welche für den Zeitraum ab Juli 2016 maßgeblich ist, empfiehlt bei der Diagnostik von Schwerverletzten eine zeitnahe Ganzkörper-Computertomographie mit traumaspezifischem Protokoll
Die Maßgaben für die Erstversorgung von Unfällen im Zeitraum ab Juli 2016 wären somit anders zu bewerten.
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