OLG Braunschweig, Urteil vom 28.02.2019, AZ: 9 U 129/15
Das Oberlandesgericht Braunschweig sprach einer an Darmkrebs erkrankten und infolge der Krankheit verstorbenen Patientin, deren Krebserkrankung verspätet festgestellt worden ist, ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € zu.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Eine 47-jährige Patientin stellte sich im August 2007 nach Überweisung durch ihren Internisten bei einem Proktologen (Darmspezialisten) vor. Sie litt unter spritzenden Blutungen aus dem Anus. Der Proktologe diagnostizierte und behandelte Hämorrhoiden und eine Analfissur. Eine Darmspiegelung (Koloskopie) oder eine Mastdarmspiegelung (Rektoskopie) veranlasste er nicht. Er teilte hierzu dem überweisenden Arzt mit, dass bei Beschwerdefreiheit zunächst keine weiteren Sitzungen und auch keine Darmspiegelung erforderlich seien. 9 Monate später wurde die Patientin wegen eines anderen Leidens in einem Krankenhaus stationär aufgenommen. Dort wurde Darmkrebs diagnostiziert, der bereits in die Leber metastasiert hatte. Die Patientin überlebte die Krebserkrankung nicht und verstarb nach zahlreichen belastenden Therapien und Operationen im Dezember 2012. Ihre Erben verklagten den Proktologen auf Schadensersatz mit dem Vorwurf, dass die unterbliebene Darmspiegelung einen groben Behandlungsfehler darstelle. Der Patientin sei dadurch eine zeitgerechte, weniger invasive Behandlung von 4-5 Monaten mit vollständiger Genesung genommen worden.
Ein gerichtlich veranlasstes Sachverständigengutachten ergab, dass der Proktologe jedenfalls eine Mastdarmspiegelung (Rektoskopie) hätte durchführen müssen. Bei dieser hätte man den reaktionspflichtigen Darmkrebsbefund erhalten. Das Fortschreiten des Tumors sowie dessen Metastasierung hätten dadurch früher unterbunden werden können.
Das Landgericht Braunschweig gab der Klage nahezu vollumfänglich statt und verurteilte den Proktologen u.a. zur Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 €. Dieses Urteil hielt vor dem Oberlandesgericht Braunschweig stand.
Das Unterlassen der Darmspiegelung stellt einen Behandlungsfehler in Form eines Befunderhebungsfehlers dar
Ein Behandlungsfehler sei anzunehmen, da es der Beklagte unterlassen habe, eine Befunderhebung (hier: Darmspiegelung) durchzuführen, welche mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen reaktionspflichtigen Befund (hier: Darmkrebs) ergeben hätte und das Nichtreagieren auf diesen Befund ein grober Behandlungsfehler gewesen wäre.
Die unterlassene Befunderhebung ist ein grober Behandlungsfehler, wenn die Nichtreaktion auf den „verpassten“ Befund gegen eindeutige ärztliche Erkenntnisse oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen würde und einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfte
Auf den Befund „Darmkrebs“ hätte zwingend reagiert werden müssen, so dass das Unterlassen der Darmspiegelung als grob fehlerhaft anzusehen ist.
Dieser grob ärztliche Fehler führe zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich der Fehlerfolgen, die das Fortschreiten des Tumors, die Metastasierung und das Versterben der Patientin umfassen.
Die Beweislastumkehr führt zu der Annahme, dass der Behandlungsfehler die gesundheitlichen Folgen verursacht hat – diese Annahme kann der Arzt entkräften
Bei der Beweislastumkehr hinsichtlich der Fehlerfolgen muss nun der Arzt beweisen, dass die Fehlerfolgen unabhängig von seinem Fehler trotzdem eingetreten wären. Dieser Beweis ist dem verklagten Proktologen nicht gelungen. Er konnte nicht beweisen, dass der Tumor bereits im August 2007 dieselben Ausmaße wie im Mai 2008 (Größe T3 oder T 4) hatte. Ebenso wenig gelang der Beweis, dass bereits im August 2007 bei der Patientin Metastasen vorgelegen haben. Dem Arzt gelang auch nicht der Beweis, dass die Patientin auch bei frühzeitiger Krebsdiagnose im August 2007 ebenfalls wegen der Erkrankung frühzeitig gestorben wäre.
Im Hinblick auf die Beweislastverteilung sei davon auszugehen, dass bei der Patientin im August 2007 ein Tumor im UICC-Stadium I vorgelegen habe. Mit diesem Tumorstadium hätte die Patientin sehr gute Überlebenschancen gehabt.
Der Patientin kann kein Mitverschulden mit dem Vorwurf zur Last gelegt werden, sie hätte sich aufgrund ihres schlechten Befindens früher in ärztliche Behandlung begeben müssen
Der Beklagte berief sich schließlich auf ein Mitverschulden der Patientin. Diese habe bei Fortbestehen ihrer Beschwerden frühzeitiger wieder zum Arzt gehen müssen. Der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig teilte diese Auffassung nicht. Im Allgemeinen obliege es zwar der Patientin, einen Arzt aufzusuchen, wenn eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes dies nahelege. Es hänge jedoch von den Umständen des Einzelfalls ab, wann die Nicht-Konsultation des Arztes diejenige Sorgfalt außer Acht lasse, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflege.
Bei der Patientin seien bloß die Symptome (hier: Darmblutungen) erneut aufgetreten, für die ihr aufgrund der vorangegangenen fehlerhaften Diagnose des verklagten Proktologen Erklärungen genannt worden seien (hier: Hämorrhoiden und Analfissur). Diese Befunde legten keine zeitnahe Wiedervorstellung nahe. Sie habe daher darauf vertrauen können, dass keine ernsthafte Erkrankung (hier: Darmkrebs) vorliege.
Der Senat stellte abschließend fest, dass bei der Leidensgeschichte der Patientin ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 € angemessen und keinesfalls überhöht sei.
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